Architektur
Könnten unsere Mauern sprechen, würden Sie die Geschichten der durch Europa gereisten litauischen Architekten erzählen und auf die bekanntesten Schulen und Richtungen der Architektur hinweisen, die in unseren Städten und Städtchen ihre Spuren hinterlassen haben.
Die Identität der unserer Architektur wird nicht nur durch historische Erlebnisse bestimmt, sondern auch durch Menschen, die zu unterschiedlichen Zeiten hier lebten – ihrem Verständnis für den Lebensraum, auf den sie stolz waren und den sie der Welt zeigen wollten. Nach Holz, Ton und Stein, folgten bereits im 13. Jahrhundert die ersten Backsteingebäude in Litauen. Die Reste des Mauerwerks aus diesem Jahrhundert befinden sich im Herzen von Vilnius – im Glockenturm der Kathedrale. Offen für eine Vielfalt an Kulturen, Kunstrichtungen und Baustilen, schuf Litauen ein außergewöhnliches und einzigartiges Gesicht der Architektur.

Als Europa spitze Türme in den Himmel wachsen ließ, haben die Litauer Krieg geführt. Die aus Feldsteinen gemauerten Burgen eigneten sich besser zur Verteidigung gegen Feinde als elegante, zerbrechliche Türmchen. Diese entstanden erst nach den großen Schlachten, als zur gleichen Zeit in Litauen das Christentum eingeführt wurde. In den Städten begann man mit dem Bau von Kirchen, Rat- und Zunfthäusern.
Zu den schönsten und majestätischen Bauwerke dieser Zeit gehören die legendäre Wasserburg von Trakai, die St. Annenkirche in Vilnius sowie die Vytautas-Magnus-Kirche und die Kirche der Heiligen Gertrud in Kaunas. Die litauische Gotik erreichte uns recht spät, aber umso origineller und spezifischer wurde der Stil in Litauen umgesetzt. Sie legte den Grundstein für die weitere Entwicklung der Architekturstile.

Für die Epoche der Renaissance in Litauen sind wir den Italienern sehr dankbar und umso mehr der mailändischen Prinzessin Bona Sforza. Sie war es, die nach ihrer Heirat mit dem litauischen Großfürsten und Herrscher Polens Sigismund dem Alten, viele italienische Architekten, Künstler und Musikanten nach Litauen und Polen brachte. Im Geiste der Renaissance erzog sie auch ihren Sohn Sigismund Augustus. Die italienische Mode von Bona Sforza übernahmen auch die Adeligen Litauens – besonders das berühmte Adelsgeschlecht Radziwiłł. Auch Kirchen und Häuser mussten auf ihren Wunsch im Stil der Renaissance errichtet werden. Das Beispiel setzten Bona Sforza und Sigismund August, die den unteren Palast von Vilnius in diesem Stil umbauen ließen.

Schluss mit Prunk und Luxus – es leben die regelmäßigen Formen, die Schlichtheit und Bequemlichkeit! So lauteten die wichtigsten Verlautbarungen der Architekten des Klassizismus bereits am Ende des 18. Jahrhunderts. Die gefühlvollen Schnörkel des Barock wichen grazilen, regelmäßig geformten Säulen, die an die Zeit des römischen Kaiserreichs erinnerten. Nach Litauen gelangte der Klassizismus über den berühmten litauischen Künstler Pranciškus Smuglevičius, der sein Studium in Rom absolvierte und einen engen Kontakt mit der damals berühmten italienischen Architektenfamilie Spampani unterhielt. In Vilnius entwarf Carlo Spampani die ersten klassizistischen Gebäude. Als berühmtester Schöpfer des litauischen Klassizismus gilt jedoch Laurynas Gucevičius, der Vilnius ein Meisterwerk des Klassizismus zum Geschenk machte – die Kathedrale von Vilnius.

Die Mode des Barock gelangte sehr schnell aus Italien nach Litauen. Für die Adeligen des florierenden Großfürstentums Litauen war es eine Ehrensache, auf ihrem Anwesen Architekten aus Italien einzuladen. Der modische, prachtvolle und reichhaltige Baustil des 16. und 17. Jahrhundert sollte in Litauen so stark florieren, dass Vilnius den Status „Hauptstadt des osteuropäischen Barock“ erhielt und in ganz Europa bekannt wurde. Die Anhänger der Vilniusser Schule trugen ihre Erfahrung in das ganze Territorium des Großfürstentums Litauen, sodass Bauwerke im litauischen Barock auch heute noch in Weißrussland, in der Ukraine und in Polen gefunden werden können.

Jung, ehrgeizig und mutig – so waren die litauischen Architekten der Zwischenkriegszeit. Nachdem sie ihr Studium in den Großstädten Europas abgeschlossen hatten, brachten sie die Ideen der Moderne, die sich nach dem Ersten Weltkrieg in Europa ausbreitete, nach Litauen. Sie vermischten diese mit den litauischen Traditionen und schufen eine ganz eigene Schule der Architektur. Die Zeit für solche Experimente war besonders günstig: Kaunas wurde zur zeitweiligen Hauptstadt Litauens. Hier fand das politische, kulturelle und wirtschaftliche Leben statt, und die Bauvorhaben folgten Schlag auf Schlag. Der Geist der Architektur der Zwischenkriegszeit ist auf wundersame Art und Weise in den Exterieurs und Interieurs erhalten geblieben und faszinieren heute mit modernen, zeitgenössischen Formen. Den Wert der Kaunasser Moderne schaffen nicht nur die Gebäude, sondern auch die Geschichten und Persönlichkeiten, die daran beteiligt waren. Genau deshalb zieht dieses Gesamtbild heute nicht nur Kenner der Architektur an, sondern alle, die die Geschichte der Stadt und des Landes kennenlernen möchten.

Wo es einen Wald gibt, wird es auch ein Haus geben. Die Litauer halten sich seit alten Zeiten an diese Regel. In dem bewaldeten Land war der Baum bzw. das Holz, der wichtigste Baustoff: Seit Anbeginn der Staatlichkeit wurden daraus Unterkünfte, Verteidigungsanlagen und Gebetshäuser gebaut. Die Geheimnisse der Tischler und Möbelmacher wurden von Generation zu Generation weitergegeben, und viele Familienoberhäupter errichteten ihre Häuser selbst. Die Zeit, Kriege, Brände und das moderne Leben haben zahlreiche Meisterwerke der litauischen Holzarchitektur zerstört. Zur Sowjetzeit wurde Holz als Baustoff verachtet und als billig angesehen, doch heute gewinnt das Material in der Architektur wieder an Ansehen und schafft eine gemütliche, beständige Umgebung. Die schönsten und wertvollsten Beispiele der alten Holzarchitektur (sogar ganze Dörfer) werden akribisch geschützt. Man kann sie in Freilichtmuseen betrachten, wie zum Beispiel im litauischen Volkskundemuseum im Bezirk Kaišiadorys, im Bezirk Radviliškis, in Kleboniškiai sowie im niederlitauischen Dorfmuseum in Telšiai.

Zu der Zeit, als sich in Kunst und Architektur des Westens die Moderne aus der Mitte des Jahrhunderts entwickelte, verbreitete sich in Litauen der sozialistische Realismus. Die Ideen und Moden der freien Welt gelangten trotzdem durch den Eisernen Vorhang. Die litauischen Architekten, die zu Sowjetzeiten tätig waren, schöpften Inspiration vom französischen Architekten Le Corbusier und hatten auch Einblick in Projekte der skandinavischen Moderne. In den grauen, einheitlich entworfenen Plattenbaubezirken fanden die Gedanken westlicher Architektur keinen Platz, aber im öffentlichen Raum gelang den Architekten, die Schaffung außergewöhnlicher Objekte. Heute können sie uns viel darüber berichten, was damals modern war und was mit der sowjetischen Ideologie im Widerspruch stand. Die meisten dieser Gebäude üben bis heute ihre Funktionen aus und nur wenige von ihnen warten auf eine Wiedergeburt.